KI kann die Vorarbeit machen, dann kommt es auf die Führungskräfte an.

Interview mit Gregor Mielke von der HPO Research Group
KI kann die Vorarbeit machen - Gregor Mielke Interview

Lieber Gregor, als HPO Group habt ihr schon vielen Organisation geholfen, ihre Organisationskultur weiterzuentwickeln. Dass es mit dem Kickertisch nicht getan ist, dürfte mittlerweile bei den meisten angekommen sein. Erzähl doch mal: Was heißt Kulturwandel in Organisationen für dich bzw. euch?

Ja, das stimmt. Kicker und Obstkorb reichen schon lange nicht mehr, haben wahrscheinlich auch noch nie gereicht. Bestenfalls sind sie ein Symbol für eine bestimmte Kultur. Kultur hingegen beschreiben wir als die Summe der Verhaltensgewohnheiten der Menschen, die eine Organisation ausmachen. Oder, wie Bright und Parkin es einmal so treffend ausdrückten: „So machen wir das hier.“

Dass sich die Beschäftigung mit der eigenen Organisationskultur lohnt, hat sich zum Glück mittlerweile herumgesprochen, Kultur wird immer stärker zum zentralen Wertschöpfungshebel. Und will man Kultur nun verändern, braucht es zum einen eine gute Bestimmung des Ist- und des Soll-Zustandes der Kultur. Hierbei kommen unterschiedliche moderative Techniken und auch Messverfahren zum Einsatz. Auch und gerade KI leistet hier einen stetig wertvolleren Beitrag. Und zum anderen braucht es zwingend ein Leitungsgremium, das die erwünschte Kultur vorlebt. Systematische Kulturveränderung ist immer ein Prozess, der stets von oben beginnt.

Für uns heißt Kulturwandel also im ersten Schritt, eine Organisation professionell dabei zu unterstützen, ihre kulturellen Kernmerkmale auszuformulieren, denn auf dieser Basis ist erst ein Abgleich mit einer dann zu definierenden Zielkultur möglich. Um im zweiten Schritt dann das Leitungsgremium besser darin zu machen, die Zielkultur tatsächlich als Team vorzuleben. In den darauffolgenden Schritten helfen wir weiteren Führungsebenen dabei, sich so aufzustellen, dass im Idealfall alle Führungskräfte tatkräftig am Kulturwandel mitwirken. Eingerahmt ist dieser Prozess von einer möglichst intensiven Einbindung aller Mitarbeitenden bspw. in Workshopformaten, Fokusgruppen oder auch durch KI-gestützte Mess- und Befragungsmethoden.

Der Moderator eines Gesprächs bezeichnete KI einmal als “Fast Moving Target”, weil ihre Entwicklung zu schnell voranschreite, als dass es unmöglich sei, parallel Regeln für den richtigen Umgang mit ihr zu finden. Die Technologie ist uns quasi immer schon zehn Schritte voraus. Was bedeutet das für die Unternehmenskultur? Brauchen wir im Zwischenmenschlichen auch eine Beschleunigung oder sind hier eher andere Werte gefragt, wie Stabilität, Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit?

Na ja, zum einen muss in der kulturellen Ausrichtung einer Organisation natürlich berücksichtigt sein, dass die Dinge sich ja tatsächlich immer schneller verändern und die Welt immer komplexer wird. Nicht umsonst ist die Dynamik einer Organisation einer der zentralen Stellhebel moderner Kulturentwicklung. Und hier sehen wir KI als wertvolle technologische Hilfe, die Verborgenes aufspüren und Wissen schnell und systematisch zugänglich machen kann.

Aber zum anderen ist der eigentliche Kulturwandel ein langsamer Prozess, in dem Menschen ihr Verhalten und manchmal auch ihre Einstellungen, Glaubenssätze und Werte adaptieren. Kultur selbst ist sehr konservativ, weil der Mensch wie auch ganze Organisationen dazu neigen, die Erfolgsfaktoren der Vergangenheit gegen eine Störgröße namens Zukunft zu verteidigen.

Die Kultur eines Hauses bestimmt eher darüber, wie offen und wie neugierig mit KI umgegangen, wie schnell sie eingesetzt und genutzt wird. Aber um diese Offenheit für Veränderungen zu generieren, sind die oft langsamen Veränderungsprozesse auf der Haltungsebene zentral. Um Kultur nachhaltig zu verändern, braucht der Mensch Zeit, Zeit für das Aushandeln von Beziehungen, Zeit für den Aufbau von Vertrauen, Zeit für das Lernen voneinander. KI kann hier unterstützen und in einer idealen Welt schafft KI einen Zeit- und Erkenntnisgewinn für den Menschen. Der wiederum gibt den Menschen in dieser Kultur Raum zur Reflexion, zum Lernen, zur Regeneration und zum besseren Miteinander, bei gleichzeitig besserem Output.

Am Ende mag KI ein “Fast Moving Target” sein und dadurch wenig steuer- oder sogar kontrollierbar. Sie kann Prozesse verbessern und beschleunigen und viele Dinge mehr. Aus Sicht der Kulturentwicklung braucht eine Organisation aber Zeit für das gemeinsame Aushandeln und Leben einer gewünschten Kultur und hier darf KI gern unterstützen, nicht aber so viel Tempo reinbringen, dass Menschen abgehängt werden. Kultur ist die Summe der Verhaltensweisen der Menschen, nicht das Abbild einzelner.

Ihr sprecht in eurer Beratung immer wieder von “Postagilität” bzw. der Notwendigkeit, den “perfekten Mix” zu finden. Was hat es damit auf sich?

Agilität war das Schlagwort der Organisationsentwicklung der 2010er Jahre. Die damit verbundene Forderung nach höherer Flexibilität und dezentraler Verantwortung war durchaus berechtigt, doch die dahinterliegende Vehemenz hat viele Unternehmen schlichtweg überfordert. Unsere Forschung hat gezeigt, dass langfristiger unternehmerischer Erfolg nicht in maximaler Agilität zu finden ist. Der Schlüssel liegt vielmehr im optimalen Mix aus klassischen Koordinationsmechanismen (wie hierarchischer Führung und klar definierten Strukturen und Prozessen) und agilen Methoden und Ansätzen. Wir sind also im Zeitalter der Postagilität angekommen. Es geht darum, eine unaufgeregte Normalität im Umgang mit der gesamten Bandbreite der Steuerungsmechanismen zu finden.

Welche weiteren Hebel der Organisationskultur müssen wie gestellt werden, damit Mitarbeitende zu Höchstleistungen auflaufen?

Zahlreiche Studien zeigen, dass sich eine handlungsleitend ausformulierte Kultur positiv sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Performanceparameter auswirkt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine Kultur „schön“ oder „gut“ ist. Kultur ist auch nie „schlecht“. Stattdessen beschreibt man Kultur als “funktional”, wenn sie dem Unternehmenszweck dient. Oder eben als “dysfunktional”, wenn sie diesem nicht dient. Und das völlig unabhängig davon, ob der Unternehmenszweck nun ein „guter“ oder ein weniger “guter“ sein mag. Der Unternehmenszweck bestimmt letztlich auch, welche Kulturaspekte mit Höchstleistung korrelieren. Das kann in einer NGO oder Non-Profit-Organisation ganz anders sein als bei einer großen Investmentbank. Am Ende kommt es immer auf die individuell passende Mischung aus strukturgebenden, konservativen und dynamisierenden Elementen an. Was wir aber schon sagen können, ist, dass Aspekte wie Vertrauen, Sinnstiftung, Beziehungsqualität, Autonomie, flache Hierarchien, Kollektivinteressen und ein empathischer Führungsstil dazu beitragen, dass sich ein Unternehmen im Schnitt positiver entwickelt als der Wettbewerb.

Wie finden Unternehmen heraus, was ihre Kultur ausmacht? Lässt sie sich messen?

Ja, Kultur lässt sich messen. Je nach zugrunde liegendem Modell können die Ergebnisse variieren. Da Verhalten und damit am Ende Kultur aber nicht per se physikalisch zu messen ist, sind wir immer auf die subjektiven Einschätzungen der Mitglieder einer Organisation angewiesen. Verhalten ist immer eine Bezugsgröße. Erst der Vergleich mit anderen kann aufzeigen, welche Qualität einem Verhalten beizumessen ist. Und diese Bewertung von Verhalten unterliegt erheblich der sozialen Erwünschtheit. Kultur übt einen starken Homogenisierungsdruck aus, Menschen sind geneigt, sich kulturkonform zu verhalten und diese ebenso zu beschreiben. Das bedeutet, dass eine Kulturmessung dann an Qualität gewinnt, wenn den Mitarbeitenden ohne vorgefertigte Fragebögen ein Ohr gegeben wird, um ergebnisoffen über eine aktuelle oder auch angestrebte Kultur zu sprechen. Das ist ein großartiger Vorteil, den Zortify’s KI zur Kulturmessung ins Spiel bringt. Dank NLP und der Fähigkeit der KI können die Antworten auf allgemein gehaltene, offene Fragen verstanden und auf Kulturmerkmale hin analysiert werden. In Ergänzung zu den klassischen skalenbasierten Fragebögen ermöglicht ZortifyCulture uns einen signifikant höheren Erkenntnisgewinn bei gleichzeitig verringertem Aufwand.

Dass divers besetzte Teams bessere Ergebnisse liefern, wird immer wieder betont. Kulturwandel heißt also auch, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Muttersprachen und Prägungen gleichermaßen gehört und eingebunden werden. Inwieweit kann KI-Technologie hier konkrete Vorteile bieten? 

Ja, das ist forschungsseitig klar bestätigt. Heterogene Teams sind den homogen zusammengesetzten in der Regel überlegen. Einzige Ausnahme: Geraten Teams unerwartet unter starken Stress, liegen homogen zusammengesetzte Teams leicht vorn. Da dies aber vermutlich nicht der Standard ist, tun Unternehmen gut daran, ihre Teams heterogen zu besetzen. Um hier alle Teammitgliedern im Zuge einer Kulturentwicklung an Bord zu haben, ist es natürlich unabdingbar, allen hinreichend Gehör zu verschaffen. Auch hier arbeiten wir erfolgreich mit Zortify zusammen. KI-gestützt können wir Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, sich in ihrer eigenen Muttersprache zu äußern, per NLP lassen sich die Freitext-Antworten in ihrer Bedeutung erfassen und clustern. Das wäre auf Deutsch in dieser Form sicher nicht annähernd so gut möglich und trägt unserer Beobachtung nach deutlich zur Akzeptanz einer kulturellen Weiterentwicklung bei.

Wie können Unternehmen anfangen, ihre Kultur Stück für Stück zu verändern? Hast du ein konkretes Beispiel?

Wir haben eben diskutiert, wie ein systematischer Kulturwandel initiiert und begleitet werden kann. Davon abgesehen verändert sich die Kultur eines Hauses natürlich laufend, wenn auch langsam. Kultur beharrt und mäandert und fließt und verändert sich durch die Interaktion über mal mehr, mal weniger durchlässige Systemgrenzen mit der Umwelt. Sie verändert sich durch alles – Menschen, Strukturen, Prozesse, Führungskräfteverhalten usw. – aber letztlich immer entlang geistiger Größen, durch geteilte Annahmen und Werte. Die Frage ist dann nur, ob sich die Kultur in die gewünschte Richtung verändert. Kultur kann demgegenüber zielorientiert und effektiv von oben verändert werden, wenn die Menschen in der obersten Führung lernen und sich verändern wollen. Wenn es entsprechend neue Annahmen, informelle und formelle Spielregeln gibt und sie die Macht haben, diese mit langem Atem durchzusetzen. Es braucht also Personen, die es vorleben. In der Regel sind es Führungskräfte, an denen sich die Mitglieder einer Organisation intuitiv ausrichten. Aber auch andere Personen können genügend Strahl- und Inspirationskraft haben, um Vorbilder zu sein.

Will sagen, es braucht zuallererst die Protagonisten einer erwünschten Zielkultur. Wenn sich Kultur in eine bestimmte Richtung entwickeln soll, braucht es die Definition dieser Richtung, also ein IST und ein SOLL, und Art und Ausmaß des Deltas bestimmen die Folgeaktivitäten. Und dann braucht es Menschen, die diesen Protagonisten folgen, es ihnen gleichtun und den anderen somit zeigen, dass es attraktiv ist, neue Wege zu gehen und das veränderte Verhalten zu adaptieren. Dies muss führungsseitig unterstützt und positiv hervorgehoben und belohnt werden. Und dann braucht es Zeit und Ausdauer bis zur Verstetigung des neuen Verhaltens als integraler Bestandteil der neuen Kultur.

Konkrete Beispiele gibt es erfreulicherweise viele. Wir erarbeiten bspw. gerade mit dem IT-Bereich eines großen Energieversorgers eine neue Bereichskultur. Aus vielerlei Gründen, u.a. der Arbeitgeberattraktivität, möchte unser Klient Engagement, Zufriedenheit und Innovationsfreude im Bereich erhöhen und einen „Arbeitsplatz der Zukunft“ erschaffen. Leitsatz ist „Wir haben eine positive Kultur im Bereich, die Freude am Arbeiten schafft.“ Verkürzt bringt es das Motto auf den Punkt: „Thank God, it’s Monday!” Diese Stoßrichtung ist im Führungskreis beschlossen und als Grundidee der Veränderung ausgegeben worden. Und obgleich Kulturmessung mit Zortify Culture und die weitere Arbeit mit dem Führungsteam noch ausstehen, haben wir gemeinsam mit allen Mitgliedern der Organisation bereits die ersten kleinen Schritte hin zur Zielkultur erarbeitet. Als erste Zielgrößen sind gegenseitige Wertschätzung, Freude am Arbeitsplatz und Gestaltungsfreiheit definiert worden. Und die konkreten nächsten Schritte muten z.T. klein, aber nicht weniger wirksam an, darunter wöchentliche Feedbackübungen, Bildung einer Fokusgruppe mit ausgewählten Mitarbeitenden, Team-Workshop zum Erwartungsabgleich in puncto Gestaltungsfreiheit, Einladung von Experten zum Thema „Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz“, monatliche Kurzfeedbacks an die Führung (in den Teams), Einführung eines IT-Stammtisches und viele mehr.  

Welches Arbeitsumfeld brauchst du persönlich, um in den Flow zu kommen?

Da bin ich recht anspruchslos. Nur die Aufgabe muss interessant genug sein. Ein wenig Inspiration kann nie schaden. Wenn ich dann sehe, dass es vorangeht und ich am Ende einen Unterschied für Menschen machen kann, dann kommt der Flow von ganz allein.

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