Der hausgemachte Fachkräftemangel

Warum sollten wir Bewerber*innen tiefgehend analysieren, wenn wir sowieso keine Wahl haben, wen wir einstellen?
Diese Frage hören wir oft. Sie spiegelt die Frustration vieler Unternehmen über den Mangel an Fachkräften wider. Zu Recht? Wir sagen: Ja und nein. Zum einen sind wir der Meinung, dass der Fachkräftemangel keine „Naturgewalt“ ist, der Unternehmen hilflos ausgeliefert sind. Und zum anderen sind wir sicher, dass es in vielen Bereichen gar keinen echten Mangel gibt, sondern eher ein Onboarding- und „Verteilungsproblem“. Wir sind davon überzeugt, dass Unternehmen auch mit einem schrumpfenden Talentpool gute Arbeit leisten können, wenn sie:
- ihre Recruiting-Prioritäten anders setzen,
- das Onboarding neuer Mitarbeiter*innen passgenau auf diese zuschneiden,
- mehr auf das Potenzial ihrer bestehenden Belegschaft setzen.
Dafür brauchen sie gute Daten jenseits des Lebenslaufs.
Persönlichkeit bestimmt Leistung
Sowohl bei der Einstellung neuer Mitarbeiter*innen als auch bei der Zuweisung bestehender Mitarbeitender finden wir es wichtig, sich nicht auf den ersten Eindruck zu verlassen. Stattdessen kann die Personalabteilung KI-gestützte Analysemethoden einsetzen, um Persönlichkeitsmerkmale zu identifizieren, die selbst beim zweiten Hinsehen schwer zu erkennen sind, die aber entscheidend dazu beitragen, ob Mitarbeitende wirklich die gewünschte Wirkung entfalten. Dabei kommt es weniger auf die in einer statischen Stellenanzeige formulierten Anforderungen an, sondern mehr darauf, was einen Menschen ausmacht und ob er bestimmte Charaktereigenschaften mitbringt. Wie zum Beispiel Lernbereitschaft, Offenheit für neue Themen und soziale Fähigkeiten. Viele technische Fertigkeiten lassen sich dann direkt am Arbeitsplatz erlernen.
Horizontale Karriereentwicklung fördern
Nicht jede neue Stelle muss durch Recruiting von außen besetzt werden. Anstelle der traditionellen vertikalen Karriereleiter gewinnen horizontale Entwicklungspfade an Bedeutung. Das bedeutet, dass Mitarbeitende nicht mehr zwingend die nächsthöhere Position anstreben, sondern sich innerhalb des Unternehmens links und rechts umsehen, neue Erfahrungen sammeln und Verantwortung außerhalb ihrer bisherigen Tätigkeitsroutine übernehmen wollen. Dies ist zum Beispiel durch die Mitarbeit an Projekten möglich oder im Rahmen sogenannter „Short Assignments“. Dabei handelt es sich um kurzfristige Aufgaben, bei denen häufig nur ein sehr spezifisches Kompetenzset in einer oder maximal zwei Personen gebündelt werden muss. Ein greifbares Beispiel für einen solchen „Short Assignment“ ist die Erstellung eines Digitalisierungskonzepts – eine Aufgabe, die aktuell bei vielen Unternehmen ganz oben auf der Agenda stehen dürfte.
In einem Interview mit Tom Ritsch, Mitgründer der Transformationsberatung AOAIO, das Sie weiter unten verlinkt finden, betont er, dass in Zukunft Hire-on-Demand-Ansätze und damit der Human Fit für Unternehmen viel wichtiger werden als feste Skills. Projektteams werden zunehmend wie Teams im Mannschaftssport zusammengestellt, bei dem jeder Spielerin eine zugewiesene Rolle hat. Die Kapitänsbinde trägt dabei die Person, die die richtige Persönlichkeit hat, um das Team zu motivieren und zusammenzuhalten. Der Vorteil dieser wechselnden Teamkonstellationen und der horizontalen Karriereentwicklung im Allgemeinen ist, dass Mitarbeitende ein breites Spektrum an Kompetenzen erwerben, auf das das Unternehmen immer wieder zurückgreifen kann, wenn es gebraucht wird.
Agile Mitarbeitende – (un)agile Unternehmen?
Um den vermeintlichen Fachkräftemangel anzugehen, ist es sinnvoll, dass Unternehmen Recruiting und Learning & Development viel ganzheitlicher betrachten als bisher und ein umfassendes „Mobilitätskonzept“ für Talente entwickeln. In diesem Zusammenhang hat der US-amerikanische HR-Experte Josh Bersin drei Richtungen der Talentbewegung identifiziert, auf die gute Personalarbeit fokussieren sollte:
- Die Bewegung neuer Mitarbeitender in das Unternehmen,
- Die Bewegung bestehender Mitarbeitender innerhalb des Unternehmens und
- Die Rückkehr ehemaliger Mitarbeitender in das Unternehmen (sogenannte „Boomerang Employees“).
Zwei dieser Gruppen – bestehende und ehemalige Mitarbeitende – kennen die Unternehmenskultur und die Produkte bereits und haben sich im besten Fall auch fachlich bewährt. Auf Basis von KI-gestützten Mitarbeiterdiagnosen, die die Persönlichkeit von Einzelpersonen mit einem Fokus auf ihr unternehmerisches Potenzial analysieren, können diese Mitarbeitenden gezielt für neue Aufgaben und Herausforderungen (re)rekrutiert werden. Gleichzeitig gibt eine solche Analyse Unternehmen ein gewisses Maß an Sicherheit, dass neue Bewerbende – selbst wenn sie fachlich nicht perfekt auf eine Position passen – Charaktereigenschaften mitbringen, auf die aufgebaut werden kann, und dass sie keine absehbaren toxischen Verhaltensweisen ins Unternehmen tragen. Wenn diese Kriterien erfüllt sind, lassen sich Mitarbeitende durch gutes Onboarding und individuell abgestimmte L&D-Programme Schritt für Schritt für ihre neue Rolle qualifizieren.
Innen strahlen, außen glänzen
Unternehmen, die in Persönlichkeits-basiertes Learning & Development investieren und damit die interne Mobilität ihrer Belegschaft unterstützen, können auch einen positiven Einfluss auf das externe Recruiting haben. Wie können sie das tun?
Diversität fördern:
Indem Unternehmen Mitarbeitenden passende Rollen und Positionen vorschlagen, basierend auf einer unvoreingenommenen Persönlichkeitsanalyse, wird die Grundlage für Diversität und Vielfalt in der Teamzusammensetzung geschaffen. Vielfältige Positionen und ein hoher Grad an Chancengleichheit im Unternehmen ziehen wiederum Talente von außen an.
Fluktuation vermeiden:
Wenn Mitarbeitende die Möglichkeit haben, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln und auf eigenen Wunsch neue Karrierewege zu beschreiten, bleiben sie länger. Laut dem 2021 State of Internal Recruiting Reportvon Smart Recruiters bleiben leistungsstarke Mitarbeitende 20 Prozent eher im Unternehmen, wenn sie ihre Rolle oder ihren Verantwortungsbereich bei Bedarf ändern können. Geringe Fluktuation wirkt sich wiederum positiv auf die Arbeitgebermarke aus und damit auf die externe Wahrnehmung des Unternehmens durch Bewerbende. Tom Ritsch von AOAIO sieht das ähnlich. Selbst wenn es so scheint, als finde das Unternehmen keine passenden Mitarbeitenden, sollte es kontinuierlich daran arbeiten, sich auf dem Markt für bestehende und potenzielle Mitarbeitende zu positionieren, sagt Tom.(Das vollständige Interview finden Sie hier).).
Candidate Experience verbessern:
Wenn Unternehmen zunehmend situativ an die Besetzung von Rollen und Positionen intern herangehen und ihren Mitarbeitenden horizontale Entwicklungsmöglichkeiten bieten, zum Beispiel im Rahmen von Projekten und Short Assignments, dann stehen die Chancen gut, dass sich dies auch auf die externe Rekrutierungspraxis auswirkt. Auch hier könnte der Fokus der Personalabteilung verstärkt auf den wesentlichen Merkmalen und Fähigkeiten liegen, die momentan wirklich benötigt werden. Anstatt statische Anforderungsprofile als Maßstab zu nehmen und damit den Blick auf Defizite zu lenken, sprechen Recruiterinnen mit Kandidatinnen und richten den Blick verstärkt auf Qualitäten wie Lernbereitschaft, Kreativität und Freude daran, Verantwortung zu übernehmen.
Ja, das geht.
Es gibt viele großartige Praxisbeispiele, die zeigen, dass Unternehmen, die neue Lern- und Karrierepfade gehen und die Persönlichkeit der Menschen zu ihrem Kompass machen, dem Fachkräftemangel resilienter gegenüberstehen:
- VW hat standardisierte Ausbildungen in technischen Berufen abgeschafft. Stattdessen erarbeiten sich Auszubildende in einem offenen Experimentierraum selbst, was sie lernen müssen.
- Die Kuhn Elektro Technik GmbH, eines der größten Fachunternehmen der Branche in München, stellt Langzeitarbeitslose ein, auch ohne einschlägige Ausbildung oder Vorerfahrung. Die Hauptanforderung ist, dass sie die richtige Persönlichkeit mitbringen. Eine Erfolgsgeschichte, die Nachahmer sucht.
- Die IT-Beratung Viadee gehört zu den beliebtesten Arbeitgebern in Deutschland. Das liegt unter anderem daran, dass sie die Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen ihrer Mitarbeitenden stets im Blick hat. Zudem steht jedem Mitarbeitenden einen Mentorin aus der Personalabteilung zur Seite.
Unternehmen haben also durchaus eine Wahl. Nämlich, ob sie bereit sind, ihre bisherigen Recruiting-Praktiken selbstkritisch zu hinterfragen und sich den neuen Realitäten mit maximaler Offenheit und der Unterstützung intelligenter Technologie zu stellen.

HR sollte viel stärker auf Persönlichkeiten setzen!

Rekrutiert die Neugierigen!
