Passende Talente zu finden erlaubt keine Kompromisse!

Bewerbende wünschen sich einen schnellen, wertschätzenden Bewerbungsprozess – Unternehmen wiederum brauchen viele Informationen, um Fehleinstellungen zu verhindern, sowie effiziente und strukturierte Abläufe, um die Kosten niedrig zu halten und sich rechtlich nicht angreifbar zu machen. Wie findet HR das Gleichgewicht – und die besten Talente am besten gleich mit?
Klar ist: Ein schlechter Bewerbungsprozess kann teuer werden. Nämlich wenn Unternehmen:
- kandidat:innen einstellen, obwohl diese nicht zu ihnen passen,
- kandidat:innen ablehnen, die eigentlich gut passen würden,
- kandidat:innen im Prozess verlieren, weil diese frustriert sind,
- aufgrund wiederkehrender negativer Bewerber:innen-Erfahrungen ihren Ruf riskieren, etwa durch schlechte Bewertungen auf Kununu oder Glassdoor.
Wo Fehleinschätzungen lauern
Fehleinstellungen passieren zum Beispiel, wenn Recruiter:innen sich vorschnell von Merkmalen wie renommierten Universitäten oder großen Firmen im Lebenslauf beeindrucken lassen und daraufhin das Aufspüren der wirklich relevanten Qualifikationen vernachlässigen. In Interviewsituationen können Redegewandtheit und Selbstbewusstsein über mangelnde Kompetenzen hinwegtäuschen.
Qualifizierte Kandidat:innen wiederum laufen Gefahr, vorschnell aussortiert zu werden, wenn ihr Lebenslauf nicht den formalen Anforderungen entspricht oder sie sich im Anschreiben schlecht verkaufen. In stressigen Interviewsituationen performen introvertierte oder weniger redegewandte Bewerbende mitunter schlechter, obwohl sie fachlich exzellent wären.
Ist KI die Lösung? – Ein klares ”Jein!”.
Das Risiko von Fehleinstellungen sinkt mit dem Einsatz von KI nicht automatisch. Mitunter wirken die gleichen oben beschriebenen Effekte. KI-Systeme können zwar Lebensläufe und Anschreiben auf bestimmte Schlüsselwörter oder Qualifikationen scannen, um Zeit zu sparen. Dies kann jedoch zum Ausschluss passender Bewerbender führen, wenn unkonventionelle, aber qualifizierte Kandidat:innen aufgrund fehlender Schlagwörter übersehen werden. Gleichzeitig drohen Fehleinstellungen, wenn Bewerbende durch geschickte Platzierung von Schlüsselwörtern als geeignet erscheinen, obwohl sie es nicht sind.
Das Gleiche gilt für KI-gestützte Systeme, die Video-Interviews analysieren, um nonverbale Hinweise wie Körpersprache und Gesichtsausdrücke zu bewerten. Solche Systeme würden Kandidat:innen allein deshalb positiv bewerten, weil sie gute nonverbale Fähigkeiten zeigen. Gleichzeitig können qualifizierte Menschen durchs Raster fallen, wenn sie aufgrund von Nervosität oder kulturellen Unterschieden in ihrer nonverbalen Kommunikation negativ bewertet werden.
Kandidat:innen-Perspektive einnehmen
Was also tun? – Für mich ist klar: Der formal beste Rekrutierungsprozess nützt nichts, wenn er die Bedürfnisse der Bewerbenden außer Acht lässt. Es gibt aufschlussreiche Studien, was Kandidat:innen sich im Bewerbungsprozess wünschen. Allen voran: Objektivität, Transparenz, Geschwindigkeit und persönliche Interaktion. Ob KI-Systeme positiv auf diese Faktoren einwirken können, wird von potentiellen Bewerber:innen laut einer Umfrage der Internationalen Hochschule Erfurt unter 1.005 Teilnehmenden unterschiedlich bewertet. So gab der Großteil der Teilnehmenden an, dass der Einsatz von KI zu einem unpersönlichen Prozess führen könnte, mehr als die Hälfte fürchtet, durch Fehler in der Programmierung benachteiligt zu werden, über 40 Prozent sehen Transparenz und Datenschutz gefährdet.
Interessant ist dabei, dass der Großteil der Befragten bisher wissentlich keine Erfahrungen mit KI im Bewerbungsprozess gemacht hat. Auch variiert der Anteil der Befürworter:innen stark in Abhängigkeit von Bildungsniveau und Migrationshintergrund. So sehen Menschen mit hohem Bildungsabschluss oder mit nicht-deutscher Biografie eher Vorteile durch KI, gerade im Hinblick auf eine diskriminierungsfreie Bewertung. Zudem kollidieren die Aussagen der Studie zum Teil mit dem in anderen Studien formulierten Wunsch nach Objektivität. So gaben 59 Prozent an, dass sie fürchteten, Faktoren wie “Sympathie” würden in den Hintergrund rücken. Gleichzeitig ist Sympathie alles andere als objektiv und sagt wenig über die zu erwartende berufliche Leistung aus.
Was können Recruiter:innen aus diesen Widersprüchen folgern?
Hier kommt das ultimative Recruiting-Rezept!
Nein, natürlich nicht. Ich habe es zumindest noch nicht gefunden. (Wir arbeiten mit Zortify dran.) 🤓
Folgende Erkenntnisse aus sieben Jahren Arbeit an der Schnittstelle von HR und KI möchte ich an dieser Stelle teilen:
- Walk the Talk: Ich kann jeder und jedem ans Herz legen, sich selbst in die Zielgruppe hineinzuversetzen und die eigenen Prozesse aus Bewerber:innensicht zu durchlaufen. Fragt euch: Wie fühle ich mich an den verschiedenen Stationen des Prozesses? Weiß ich, was gerade mit welchem Ziel passiert? Ob ich mit einer KI oder einem Menschen interagiere? Hätte ich nach dieser Erfahrung noch Lust auf den Job? Und aus Recruiter:innen- und Unternehmenssicht: Habe ich schon mal selbst ein Assessment Center im eigenen Haus durchlaufen oder durfte als Beobachtende:r dabei sein, um zu verstehen, was dort gemacht wird und ob es uns als Unternehmen wirklich die Insights liefert, die wir brauchen?
- Transparenz braucht Einordnung:Wo KI zum Einsatz kommt, ist es umso wichtiger, dass HR-Expert:innen an kritischen Punkten in persönlichen Kontakt mit den Bewerber:innen treten. Etwa um zu erklären, an welchen Stellen KI-Technologie zum Einsatz kommt, welche Art der Auswertung sie liefert und wie es anschließend weitergeht. Auch De-Briefings und ein persönliches Gespräch im Falle einer Ablehnung sind wichtig, um die zarten Bande zwischen Unternehmen und Kandidat:innen bestehen zu lassen.
- Auf Individualisierung setzen:Nicht jede:r Bewerber:in hat die gleichen Bedürfnisse. Während manche Bewerbende einen schnellen Prozess bevorzugen, wünschen sich andere tiefere Einblicke in das Unternehmen. Flexible Bewerbungsoptionen, z.B. Videointerviews oder Schnuppertage, können beiden Seiten gerecht werden. Das Gleiche gilt für zu besetzende Stellen und Rollen: Nicht jede Tätigkeit erfordert die gleiche Informationstiefe. So kann der Bewerbungsprozess für eine Führungsposition anders gestaltet werden als für eine:n Mitarbeiter:in in der Produktion.
- Datenbasierte Evaluation:Um die Candidate Experience datenbasiert zu verbessern, sollten Unternehmen regelmäßig Feedback von Bewerber:innen einholen (auch den abgelehnten) und so Engpässe oder Frustrationspunkte identifizieren. Stichwort: Candidate Experience Surveys. Daneben können weitere KPIs wertvolle Erkenntnisse liefern, etwa solche, die die Performance der neu eingestellten Mitarbeitenden messen oder Zahlen, wie lange neue Mitarbeitende im Unternehmen bleiben.
- Reflektion eigener Denk- und Verhaltensmuster:Narrative, wie das vom „Bewerber- vs. Arbeitgebermarkt“ prägen die Arbeit von Recruiter:innen bewusst oder unbewusst. Fragt euch selbstkritisch: Entscheide ich immer wieder vorschnell, weil ich befürchte, den Bewerber sonst zu verlieren? Gehe ich Kompromisse ein, weil ich annehme, keine bessere Kandidatin zu finden? – Sich die inneren Treiber bewusst zu machen hilft, den Blick für das zu schärfen, was das Unternehmen wirklich braucht.
Fazit: Hire slow, fire fast.
Candidate Experience und Business Needs müssen keine Gegensätze sein – im besten Fall ergänzen sie sich. Ich denke: Jede:r Recruiter:in trägt eine Verantwortung für das Unternehmen.
Auch wenn der Bewerbungsprozess dadurch länger dauert, lohnt es sich, alle Optionen sorgfältig abzuwägen. KI-Systeme können dabei wertvolle Erkenntnisse liefern: die finale Entscheidung sollte aber immer bei einem Menschen – oder besser: einer Gruppe von Menschen – mit Expertise liegen.
Kurzfristig mag es verlockend sein, eine:n Kandidat:in einzustellen, selbst wenn er oder sie nicht ideal passt – doch langfristig schadet ein solcher Kompromiss dem Unternehmen.
Findet sich nicht sofort ein:e passende:r Kandidat:in, können Freelancer:innen, externe Expert:innen oder Berater:innen eine wertvolle Alternative sein. Plattformen wie EPH – expertpowerhouse , Upwork oder Empion bieten Zugang zu einem erweiterten Talentpool und ermöglichen es, kurzfristige Engpässe flexibel zu überbrücken.
Und nicht zuletzt: Fire fast. Was hart klingen mag, ist eigentlich ein zutiefst menschlicher Move. Denn es ist niemandem damit gedient, Mitarbeitende zu halten und ihnen Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr das gleiche negative Feedback zu geben. Zudem belastet eine Fehlbesetzung das gesamte Team. Und: Die Welt braucht keine dysfunktionalen Unternehmen, sondern lebendige und innovative Organisationen, die in einer sich wandelnden Welt gute Lösungen entwickeln. Und das ist mit den richtigen Personen auf den richtigen Positionen sehr viel wahrscheinlicher.

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